100 Prozent Bio-Landbau ist möglich.

Das zeigt ein indischer Bundesstaat – und hat damit das Herz unseres Autors Bernward Geier erobert.

Sikkim macht mich fast sprachlos. Selbst wenn man nicht an Wunder glaubt, bleibt nach einem Besuch in diesem kleinen Land die Verwunderung über das, was möglich ist, wenn einer Vision Taten folgen. Die Vision „100 Prozent Bio-Landbau“ hatte Shri Pawan Chamling, ein Bauernjunge aus  Sikkim, der eine steile politische Karriere hingelegt hat und jetzt Ministerpräsident des Bundesstaats ist.

Mein erster Eindruck, als ich durch den Willkommenstorbogen nach Sikkim einreise: Bäume, viele Bäume und Affen. Es ist weder laut noch hektisch und auf den Straßen liegt kein Plastikmüll. Ich muss in einem anderen Indien sein. Es gibt viel Wald, unzählige Bäche, Flüsse und Seen – und Wasserfälle mit kristallklarem Wasser. Die Affen sind frech wie überall. Sie säumen mit ihren Clans die Hauptstraße und posen gerne mit den Neuankömmlingen für einen Schnappschuss. Mich faszinieren die idyllisch anmutenden Terrassenfelder und die Bauernhöfe, die an steilen Hängen in schwindelerregender Höhe zu sehen sind. Kaum zu glauben: Bio-Landbau so weit das Auge reicht. Der weise Spruch des leider verstorbenen Esprit-Gründers und Umweltschützers Doug Tompkins findet hier seine beste Bestätigung: „Wenn etwas schön ist, kann man davon ausgehen, dass es gut und richtig ist. Wenn aber etwas hässlich ist, dann ist es sicher falsch.“

Viele hielten Chamling für einen Fantasten

Dass in Sikkim seit 2016 ausschließlich Bio-Landbau betrieben wird, hat ganz viel mit Shri Pawan Chamling zu tun. Chamling wuchs auf einem Bauernhof auf und ging als Erwachsener in die Politik. 1994 wurde er zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten gewählt. Als er vor 15 Jahren das Ziel deklarierte, ganz Sikkim auf Bio-Landbau umstellen zu wollen, hielten ihn viele für einen Fantasten, wenn nicht sogar für einen Spinner. Mittlerweile wurde der stets zurückhaltend auftretende Chamling  zum fünften Mal in seinem Amt bestätigt und trägt den Beinamen „grünster indischer“ Ministerpräsident. Im vergangenen Jahr wurde Chamling für sein Engagement mit dem One World Award der Bio-Firma Rapunzel ausgezeichnet (siehe Seite 47).

Doch einfach war die Umstellung  nicht. Die Farmen in Sikkim sind klein und zahlreich. Es gibt 65 000 Bauern und im Schnitt bewirtschaftet jeder von ihnen nur um die 1,5 Hektar Acker. Die Bauern mussten erst einmal überzeugt und im Bio-Landbau geschult werden. Das war eine echte Herausforderung bei den vielen kleinen, größtenteils sehr abgelegenen Höfen. Kluge Strategien waren gefragt – und bald gefunden. So wurde Kunstdünger nicht einfach verboten, sondern unattraktiv gemacht, indem die staatliche Subvention für Chemiedünger jährlich um zehn Prozent gekürzt wurde. Bereits nach ein paar Jahren war kein Bauer mehr an Kunstdünger interessiert.

Bio-Bauer wird man natürlich nicht nur, indem man Agrarchemie weglässt. Die Bauern lernten zum Beispiel auch Kompost herzustellen und damit zu düngen. In Sikkim setzt man dabei insbesondere auf die sogenannte Wurm-Kompostierung. Unterrichtet wurden die Bauern von Beamten, die vorher in ökologischen Landbaumethoden ausgebildet wurden. Wie produktiv der Einsatz von Kompost sein kann, erkenne ich, als ich in einem kleinen Maisfeld mit drei bis vier Meter hohen, saftig grünen Pflanzen stehe. Fast noch mehr beeindrucken mich aber die aprikosengroßen Kardamomtriebe, die in Sikkim geerntet werden.

Bio-Tee und Bio-Kardamom werden exportiert

Auf dem Weg zu 100 Prozent Bio war es auch wichtig, eine Zertifizierung zu etablieren und einen Markt für die erzeugte Ware aufzubauen. Heute werden alle Farmen nach internationalem Standard zertifiziert. Der einzige große Landwirtschaftsbetrieb, die staatlichen Temi Teegärten, sind seit Kurzem sogar Fairtrade-zertifiziert. Für den Verkauf der vielen Bio-Produkte wurde auf dem großen Markt in der Stadt Gangtok ein eigener Bio-Markt etabliert. Inzwischen gibt es auch kleine Bio-Läden und Ab-Hof-Verkauf. Einige Produkte wie Tee und Kardamom werden exportiert. Ein kluger Schachzug, um Bio weiter zu fördern, ist ein Gesetz, das ab 1. April gilt. Dann darf kein konventionelles Gemüse und Obst mehr nach Sikkim eingeführt werden.

Das ehemalige Königreich Sikkim befindet sich im Nordosten Indiens und grenzt an Nepal, China und Bhutan. Mit 7000 Quadratkilometern ist es das kleinste Flächenland Indiens. Die meisten der 650 000 Einwohner leben in ländlichen Regionen.
Nur 25 Prozent wohnen in kleinen Städten. Mit 30 000 Einwohnern ist die Hauptstadt Gangtok die größte Stadt des Bundesstaates Sikkim.

Ich besuche das Dorf Bul, hoch oben in den Bergen. Hier bauen 285 Familien in „Eiger Nordwand“-Steillagen Obst, Gemüse und Blumen an. Die Terrassenfelder sind schmal und erinnern an ausgelegte Handtücher. Bei der Hinfahrt sehe ich, wie ein Bauer hochkonzentriert mit einem kleinen Pflug samt Kuhgespann den Boden bearbeitet. Unglaublich, wie trittsicher die Kühe auf der Stelle wenden: hoch, drehen, runter und schon ist der Boden gepflügt.

In Sikkim ist man stolz darauf, Bauer zu sein

Wir fahren weiter zu Familie Gurung, die einen Bio-Demonstrationsbetrieb in Bul bewirtschaftet. Auf dem Hof leben – typisch für Sikkim – drei Generationen. Neben den hochbetagten Großeltern und dem Landwirtehepaar packt auch die junge Generation mit an. Das weltweite Problem der fehlenden Hofnachfolge kennt man hier kaum. Denn dank der Zukunftsperspektiven und dem Vorbild der Eltern, die stolze und erfolgreiche Bauern sind, bleibt die Jugend in Sikkim durchaus auf dem Land.

Schwarzer Kardamom

Sikkim ist bekannt für seinen schwarzen Kardamom. Dieser ist größer als grüner Kardamom und hat ein herb rauchiges Aroma.

Besucher sind in Bul immer und gerne ein Anlass, ein Fest zu feiern. Entsprechend freundlich ist die Begrüßung. Wir bekommen orange-gelbe Tagetes-Blumenkränze und bunte Seidenschals umgehängt, später spielt Musik und es wird gesungen und getanzt. Als wir bereits viele leckere Gerichte aus Kartoffeln und Gemüse, gegrilltes Hähnchenfleisch und – für mich eine kulinarische Neuentdeckung – Fleisch vom Yakrind verkostet hatten und zum allerorts populären Chang, ein nach Federweißer schmeckendes Getränk aus vergorener Hirse, übergegangen waren, wurden wir zum Essen ins Haus eingeladen. Wie? Schon wieder essen? „Klar, bisher gab es doch nur Snacks“, war die Antwort von Frau Gurung.

Natürlich durften wir uns auch den Hof anschauen. Ich sehe Kühe, Ziegen und viele Komposthaufen. Die Komposthaufen sind ebenso wie die Fässer mit pflanzlichen Präparaten beschriftet, denn der Demonstrationsbetrieb ist das Lernzentrum für alle Farmer in Bul. Auf den Feldern werden unter anderem Kartoffeln, Kohl, Möhren, Lauch, Knoblauch und Ingwer angebaut. Wirtschaftlich am attraktivsten ist der Anbau von Kardamom, für den Sikkim weltweit der wichtigste Produzent ist. Besonders schön sind die kleinen Blumenfelder, die es überall zu bestaunen gibt – und die auch zum Einkommen beitragen. Bei der Führung über den Hof wird schnell klar, wer hier das Sagen hat. Es ist Frau Gurung. Sie hat uns stolz die Felder gezeigt, den Kompost erklärt und unsere Fragen beantwortet. Ich wollte wissen, was ihr Bio gebracht habe. „Ein gutes Einkommen und eine sichere Zukunft für die Familie“, war ihre Antwort.

Bereits nach kurzer Zeit in Sikkim ist mir klar, dass „mein Bio-Wunderland“ noch viel mehr zu bieten hat als biologischen Landbau. 30 Prozent des Landes sind als Nationalpark oder Naturschutzgebiet ausgewiesen. Der Kanchengdzonga Nationalpark ist der einzige Park der Welt, der gleichzeitig UNESCO Biosphärenreservat und UNESCO Weltkulturerbe ist. Benannt ist er übrigens nach dem dritthöchsten Berg der Welt, dem über 8500 Meter hohen Kanchengdzonga – auch Schlafender Buddha genannt. Für die Einwohner von Sikkim ist der Berg heilig, weshalb er auch nicht von Sikkim aus bestiegen werden darf.

Beeindruckend sind auch die strengen Regeln, die den Tieren und der Umwelt zugutekommen. So darf in Sikkim weder gejagt noch gefischt werden. Auch das Fällen von Bäumen ist verboten. Als Strafe für einen gefällten muss der Täter zehn neue Bäume pflanzen. Einmal im Jahr wird mit dem Projekt „10 Minuten für Mutter Erde“ das ganze Land mobilisiert. Dann pflanzt quasi die ganze Nation Bäume.

Die Energieversorgung erfolgt zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien. Der Strom aus Wasserkraft- und Solaranlagen wird sogar exportiert und trägt maßgeblich zum Staatshaushalt bei. Das Vermeiden von Müll und Recycling sind in Sikkim beinahe Staatsziele. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Plastik. Bei allen staatlichen Institutionen und öffentlichen Anlässen wird Wasser nur aus Glasflaschen und in Gläsern serviert.

Nach sechs Tagen wird der Willkommenstorbogen für mich zum Abschiedstorbogen. Ich kehre in die harte Realität zurück, jedoch mit der Hoffnung, dass der „normale“ Wahnsinn der unachtsamen Naturzerstörung, der Ressourcenplünderung und der sozialen Ungerechtigkeit – wie er anderswo in der Welt stattfindet – keine Zukunft mehr hat. Ich verlasse Sikkim schweren Herzens und mit dem festen Willen, bald und mit viel mehr Zeit wiederzukommen. Bis dahin bleiben mir die Eindrücke und Fotos, die zeigen, dass ich das alles nicht geträumt habe. 100 Prozent Bio sind tatsächlich machbar. Würden sich doch nur alle Politiker von Ministerpräsident Shri Pawan Chamling inspirieren lassen.

Auch im Nebel behalten die Kühe beim Pflügen den Durchblick. © Bernward Geier
Auch im Nebel behalten die Kühe beim Pflügen den Durchblick. © Bernward Geier
In den blauen Fässern hat Bio-Bäuerin Gurung Pflanzen- präparate angesetzt. @ Bernward Geier
In den blauen Fässern hat Bio-Bäuerin Gurung Pflanzen- präparate angesetzt. @ Bernward Geier
Eingang zum Bio-Markt in der Hauptstadt Gangtok.© Bernward Geier
Eingang zum Bio-Markt in der Hauptstadt Gangtok.© Bernward Geier
Bauer beim traditionellen Butterschlagen. Später wird daraus Ghee gewonnen. © Bernward Geier
Bauer beim traditionellen Butterschlagen. Später wird daraus Ghee gewonnen. © Bernward Geier
Sikkims Bio-Bauern lieben Blumen. @ Karin Heinze
Sikkims Bio-Bauern lieben Blumen. @ Karin Heinze

One World Award (OWA)

Eine Auszeichnung für Sikkim

Shri Pawan Chamling hat im vergangenen Jahr den One World Award verliehen bekommen. Dieser wird an Menschen und deren Projekte vergeben, die „im Sinne einer positiven Globalisierung diese Welt innovativ und engagiert zu einer besseren Welt machen“. Initiiert und finanziert wird der OWA von der Bio-Firma Rapunzel in Kooperation mit dem Welt-Bio-Verband IFOAM. Die Auszeichnung ist mit 40 000 Euro dotiert. Neben dem Preis für Lebensleistung werden fünf weitere Gewinner ausgezeichnet, wovon einer als Grand Prix Gewinner besonders gewürdigt wird. 2017 waren dies Shri Pawan Chamling und das United World College (Indien & Deutschland). In der Jury engagieren sich neben dem Vorsitzenden Bernward Geier Vandana Shiva (Indien), Nnimmo Bassey (Nigeria), Roberto Ugas (Peru) und Joseph Wilhelm, der Geschäftsführer von Rapunzel. Dieser besucht traditionell die Grand Prix Gewinner. Diesmal machte sich eine neunköpfige Delegation auf den Weg, zu der auch unser Autor Bernward Geier gehörte.
www.one-world-award.de

Foto: Statue für  Vorbilder: Der One World Award wird alle drei Jahre auf interna­tio­naler Ebene ver­geben. Die erste Ver­leihung fand 2008 statt. © PR-Material

Interview

„Ich wollte Sikkim von der Chemie befreien“

Warum wollten Sie ganz Sikkim auf Bio umstellen?

Am wichtigsten war mir, Sikkim von den gefährlichen Chemikalien zu befreien. Die Gefahren der Kunstdünger und Pestizide waren eine große Bedrohung für die Gesundheit unserer Menschen und auch für die Biodiversität. Es gab nur einen Weg und der führt zur biologischen Landwirtschaft. Ich war überzeugt, dass ein konsequenter Weg zum biologischen Landbau nicht nur die Existenzen der Farmer retten kann, sondern damit ein Beitrag zur Rettung der Erde geleistet wird.

Shri Pawan
Chamling

... ist Ministerpräsident von Sikkim, dem zweitkleinsten Bundesstaat Indiens. Sikkim beschloss 2003, die gesamte Landwirtschaft auf Bio umzustellen – und schaffte dies innerhalb von 12 Jahren.

Was waren die größten Herausforderungen?

Die erste Herausforderung für unsere Bäuerinnen und Bauern war, dass mit dem Bio-Landbau ein neues Denken verbunden ist. Es war natürlich auch schwierig, die Methoden des Bio-Landbaus auf die Bauernhöfe zu bringen. Noch schwieriger war es jedoch, die Institutionen zu überzeugen. Als das Parlament meinen Antrag annahm, die gesamte Landwirtschaft von Sikkim umzustellen, hat der damalige Landwirtschaftsminister dagegen opponiert und behauptet, dass dies unmöglich sei. Konsequenterweise ist er zurückgetreten.

Wie könnte Deutschland das bescheidene Ziel von 20 Prozent Bio erreichen?

Entscheidend wird sein, dass die Regierung den biologischen Landbau als oberste Priorität in ihren politischen Zielsetzungen festlegt. Demnach kann ich nur empfehlen, die Umstellung zum Staatsziel zu erklären und Politik und Gesetze entsprechend darauf auszurichten.

Könnte auch der Rest der Welt auf Bio-Landbau umgestellt werden?

Wenn wir auf der ganzen Welt dieses Ziel annehmen, dann schaffen wir es bis 2050, dass konventionelle, agro-chemische und industrielle Landwirtschaft der Vergangenheit angehören. Ich bin mir dessen sogar ganz sicher.